Tag 10: Samstag, 08. Oktober 2016
Inselfieber – Ausflug auf die Grosse-Île
„Canada is a great country, one of the hopes of the world.” – Jack Layton
Auf den heutigen Tag hatte ich mich so gefreut und nun das, es regnet. Der Wetterbericht sagt sogar Starkregen für später voraus. Na super. Eine Wahl habe ich aber nicht, denn den Ausflug zur Grosse-Île musste ich vorbuchen und stornieren geht auch nicht mehr. Einzige Hoffnung ist, dass das Wetter flussaufwärts nicht ganz so schlimm sein soll, sagt zumindest der Wettermann.
So mache ich mich auf den Weg und tatsächlich scheint sich der Regen weiter nördlich wirklich etwas mehr zurückzuhalten. Auch die Lage meines Hotels macht sich jetzt bezahlt, denn um nach Berthier-sur-Mer zu kommen, wo die Tour startet, muss ich auf die andere Flussseite und die Brücke liegt fast neben dem Hotel.
Viel Verkehr ist an diesem Samstagmorgen nicht, sodass ich relativ zügig mein Ziel erreiche. Etwa eine halbe Stunde früher bin ich da und völlig allein auf einem verwaisten Parkplatz. Zuerst denke ich, dass ich falsch bin, aber ein kleines Schild verspricht Klarheit. Zu sehen ist aber trotzdem niemand. Ganz allein stehe ich am Ufer des St. Lorenz Strom.
Doch nach und nach trudeln dann tatsächlich Leute und auch die Angestellten der Ausflugsfirma ein. Es ist ja schon Nachsaison und heute startet die vorletzte Tour des Jahres 2016, sodass sich der Andrang in Grenzen hält. Das wiederum ist schön, denn so ist es auf dem Boot und der Insel nicht so voll.
Während ich warte, bemerke ich, dass um mich herum nur Französisch gesprochen wird. Einige Leute sprechen zwar etwas Englisch, aber die meisten nur gebrochen. Bis auf eine Frau, die neben mir die einzige zu sein scheint, deren Muttersprache nicht Französisch ist. Es stellt sich heraus, dass sie aus Vancouver ist.
Ich habe schon die Befürchtung, dass die ganze Tour jetzt in Französisch stattfindet. Ich habe die Sprache zwar in der Schule gelernt, aber fließend spreche ich sie längst nicht mehr. Mir fehlt einfach die Übung. Doch darüber muss ich mir gar nicht lange Gedanken machen, denn ein freundlicher Mitarbeiter erklärt uns, dass die Insel zu Parks Canada gehört und sie somit verpflichtet sind, die Tour auch in Englisch anzubieten, sollte jemand kein Französisch verstehen. Und wie genial diese Tatsache heute für mich ist, das sollte ich gleich selbst erleben können.
Das hier ist übrigens unser Boot, das heute die Überfahrt zur Grosse-Île durchführen wird. Kurz bevor es losgeht, fängt es leider auch hier an zu regnen. Na toll, das sind ja gute Aussichten. So langsam sehe ich den ganzen Ausflug ins Wasser fallen. Ein Zurück gibt es jetzt aber nicht mehr.
Erst einmal heißt es nun alle an Bord, damit die Fahrt beginnen kann.
An Bord beginnen dann sogleich die Erklärungen, auf Französisch. Die Dame aus Vancouver und ich aber werden sogleich abgeholt und auf die Brücke geführt. Huch, wie cool ist das denn? Wir kriegen hier vom Kapitän persönlich alle Erklärungen, denn der spricht, im Gegensatz zu seiner Crew, auch fließend Englisch.
Nebenbei erklärt uns der Kapitän nicht nur jede Menge über den Fluss, sondern auch die Gerätschaften an Bord. Schließlich dürfen wir sogar einmal auf dem Kapitänsstuhl Platz nehmen. Was für ein Spaß. Die Überfahrt ist wirklich einmalig.
Dann kommt die Grosse-Île immer näher. Zuerst ist sie nur ein Streifen am Horizont, denn der Fluss ist hier extrem breit. Als wir näher kommen, kann man dann auch die ersten Gebäude erkennen. Wie mag das wohl für die Menschen gewesen sein, die einst hier nach der langen Überfahrt aus Europa erstmals kanadischen Boden betraten? Das nämlich ist der Sinn der Grosse-Île gewesen, sie war sozusagen das Ellis Island von Kanada. Über die Insel sind Zehntausende Menschen in das Land eingewandert.
Als Erstes fällt mir das irische Kreuz hoch über den Klippen ins Auge. Ein Großteil der Einwanderer kam auch hier aus Irland und das Kreuz erinnert an sie.
Umso näher wir kommen, desto mehr Gebäude kann ich ausmachen und auch meine Aufregung steigt. Ich bin gespannt, was mich erwartet. Glücklicherweise hat auch der Regen wieder aufgehört und ich hoffe, den Ausflug zumindest im Trockenen machen zu können.
Schließlich docken wir an der Insel an und werden von Parkrangern begrüßt.
Die mehr als vierzig Französisch sprechenden Gäste werden gleich einem Ranger übergeben und wir zwei Englisch sprechenden bekommen unseren eigenen Guide. Kurz bevor wir losziehen, gesellt sich ein Pärchen aus Montréal zu uns, dass beide Sprachen fließend spricht. Sie wollen lieber mit unserer kleinen Gruppe mitkommen und so sind wir halt zu viert.
Die Grosse-Île ist eine von 21 Inseln im Isle-aux Grues Archipel. Der Aufbau einer Quarantänestation auf der Insel begann bereits 1832, nachdem es eine schwere Choleraepidemie in Kanada gegeben hatte. Man vermutete, dass die Krankheit von Einwanderern auf den Schiffen mitgebracht wurde und wollte diese fortan nicht mehr einfach so ins Land lassen. So musste seitdem jedes Schiff aus Europa hier stoppen und die Menschen an Bord wurden einem Gesundheitscheck unterzogen sowie einige Zeit unter Quarantäne gestellt. Die Ankunft erfolgte zuerst in diesem Gebäude.
Die meisten Einwanderer hatten Koffer und Taschen mit ihren Habseligkeiten dabei, doch auch diese konnten kontaminiert sein. So war es nötig, sie zu desinfizieren.
Der Großteil der Einwanderer, die über die Grosse-Île nach Kanada kamen, waren Iren. Besonders während der großen Hungersnöte kamen sie zu Hunderttausenden. Doch nicht nur Englisch wurde hier gesprochen. Auch aus anderen europäischen Ländern kamen die Menschen, darunter knapp 10 Prozent aus Deutschland.
Desinfiziert wurde mit der Hilfe dieser Apparaturen. Die Habseligkeiten der Menschen wurden in Stahlkörbe gepackt und dann in diese riesigen Kessel gerollt. Dort drin wurde alle so lange erhitzt, bis sämtliche Erreger abgetötet waren.
Doch natürlich mussten auch die Menschen selbst sowie die Kleidung, die sie am Körper trugen, gereinigt werden. Dazu versammelten sie sich zuerst in solch einem Raum. Hier warteten sie auf das weitere Prozedere.
Einige der Räume werden heute als Ausstellungsräume genutzt. Hier hängen Plakate aus den verschiedensten Ländern, mit denen Menschen in die neue Welt gelockt wurden. Wenn man das liest, hat man fast das Gefühl, es würde sie am anderen Ende des Atlantiks das Paradies erwarten. Da muss der Aufenthalt auf der Grosse-Île für viele doch fast ein böses Erwachen gewesen sein.
Hinter der nächsten Tür verbergen sich dann jede Menge metallene Kabinen. In jeder ist eine Dusche. Die Menschen mussten sich komplett entkleiden. Ihre Sachen wurden abgeholt und ebenfalls desinfiziert und sie selber mussten sich ebenfalls einer gründlichen Reinigung unterziehen.
Über jeder Dusche war ein Gitter, damit sich keiner heimlich aus dem Staub machen konnte, oder die Männer etwa den Frauen beim Duschen zusehen konnten, denn hier gab es keine getrennten Duschen.
Im nächsten Saal, der früher auch ein Waschraum war, dann wieder eine Ausstellung. Hier geht es um Infektionskrankheiten und wichtige Entdeckungen, wie durch den Deutschen Robert Koch. Es mutet schon fast lustig an, dass die Menschen früher glaubten sich mit solcher Kleidung, wie im Bild unten links, für Infektionen schützen zu können.
Wieder draußen laufen wir über einen Hof zu einem Gebäude, in dem früher Schlafsäle für die Menschen waren. Heute sind hier ein Aufenthaltsraum sowie eine Cafeteria für die Besucher eingerichtet. Hier haben wir eine kurze Pause, damit wir uns erfrischen können.
Im Saal gibt es kleine Vitrinen mit Funden, die bei Ausgrabungen und Bauarbeiten auf der Insel gemacht wurden.
Dann geht es zu Fuß weiter. An einigen Gebäuden sieht man immer noch den Zahn der Zeit nagen. Hier ist noch viel Arbeit, bis alles so renoviert ist, dass es auch noch für zukünftige Besucher erhalten bleibt. Das harte Klima hier im Fluss ist da wenig hilfreich. Über den Winter ist nicht nur heute alles geschlossen. Schon zu den Hochzeiten der Insel wurden Einwanderer hier nur während des Sommers abgefertigt. Ansonsten wurde eine Einrichtung in Halifax genutzt.
Wir erreichen schließlich das First-Class-Hotel. Ja, auch so etwas gab es hier, denn die Einwanderer wurden natürlich strickt nach ihren finanziellen Möglichkeiten untergebracht. Zur Desinfektion mussten sie aber alle, egal ob arm oder reich.
Der Speisesaal dieser Unterkunft ist schon etwas komfortabler eingerichtet. Hier nehmen auch wir am Tisch Platz, während der Ranger etwas mehr zu den Unterkünften erklärt.
Dann geht es über einen schmalen Gang zu den Zimmern. Einzelzimmer waren Standard, doch auch die waren recht klein. Ein Bett und ein Waschbecken mehr passte selbst hier nicht hinein. Luxus sieht wahrlich anders aus. Der größte Komfort war wohl die Privatsphäre, die die Gäste hier genießen konnten.
Hinter dem Hotel beginnt ein Pfad durch die Bäume, dem wir weiter folgen. Es geht etwas bergan und auch einige Stufen hinauf.
Schließlich erreichen wir eine Lichtung und sind am Irish Memorial angekommen. Das große Kreuz hatte ich ja bereits vor dem Anlegen auf der Insel entdeckt. Es erinnert an die knapp 500.000 irischen Einwanderer, die über die Grosse-Île nach Kanada kamen. Es wurde bereits am 15. August 1909 eingeweiht und ist das größte Denkmal seine Art in ganz Nordamerika.
Von hier oben auf der Klippe hat man aber auch einen schönen Blick auf den Fluss und die umliegenden Inseln.
Wir steigen wieder von der Klippe hinab und gehen weiter ins Inselinnere. Hier liegt ein großer Friedhof. Es wird vermutet, dass zwischen 3000 und 5000 Einwanderer auf der Insel an Infektionskrankheiten starben.
Auf diesem Monument sind schließlich die Namen der Einwanderer, von denen Aufzeichnungen existieren, verzeichnet. Darunter wieder viele irische Namen, aber immer wieder auch Deutsch klingende. Das erinnert mich am meisten an das Monument auf Ellis Island, wo ebenfalls Zehntausende Namen verzeichnet sind.
Wir laufen zurück zum Startpunkt unsere Wanderung. Hier erwartet uns ein Shuttle, mit dem wir den Rest der Insel erkunden werden. Alles zu Fuß zu machen, ist in gut vier Stunden einfach nicht zu schaffen. Das ist allerdings auch schade, weil man so weniger Zeit zum Schauen und Fotografieren hat.
Los geht die Fahrt auf einer Straße, die vorbei an Wohnhäusern führt. Einige dieser Bereiche waren für die Einwanderer gesperrt, denn auch das Personal, das sie betreute, musste ja irgendwo zu Hause sein.
Ganz am anderen Ende der Insel halten wir schließlich vor diesem Gebäude und steigen aus. Hier wurden die Menschen isoliert, bei denen man eine Erkrankung feststellte.
In solchen Schlafsälen waren die Patienten untergebracht. Der Genesung förderlich war das sicher nur bedingt.
Gegen einige Krankheiten sollte auch Rotlicht helfen, weswegen einer der Schlafsäle komplett in rotes Licht getaucht war.
Schließlich heißt es wieder einsteigen in das Shuttle und die Fahrt geht zurück. Da es nicht sehr voll ist, sitze ich nun auf der anderen Seite, um auch hier ein paar Schnappschüsse machen zu können.
Diese Baracken stammen übrigens nicht aus der Nutzung als Quarantänestation, denn die wurde bereits 1932 geschlossen. Danach übernahm das kanadische Militär die Insel und testete hier besonders im Zweiten Weltkrieg chemische Waffen. Im Jahr 1956 wurde das Gelände dann in eine Quarantänestation für Tiere umgewandelt.
Auf dem Rückweg legen wir schließlich einen weiteren Stopp bei dieser Kirche ein, die wir auch von innen besichtigen können.
Ich sprinte noch schnell zu den Häusern rechts und links für ein schnelles Foto, bevor es auch schon weitergeht.
Wir erreichen wieder die Ankunftsgebäude, die wir heute Morgen als ersten besichtigt haben. Bis zum Ablegen des Bootes ist noch etwas Zeit, sodass ich mir noch die restlichen Räume ansehe.
Hier sieht man, wo die desinfizierten Kleidungsstücke wieder entnommen wurden, denn das konnte ja nicht im selben Raum passieren, in dem die kontaminierte Kleidung aufbewahrt wurde.
Auch die riesigen Kessel stehen hier, mit denen die Desinfektionskammern erhitzt worden sind.
Ein kleiner Fakt hat sich dann noch in meinem Kopf festgesetzt. Zwar wurden die Einwanderer hier auch der Grosse-Île im Gegensatz zu Ellis Island nicht gleich registriert, denn das wurde in Quebec City gemacht, aber man weiß trotzdem, dass einer, der hier einwanderte, der Großvater von Henry Ford war. Er war einer derer, die diesen Quarantäneprozess erfolgreich hinter sich brachten und bleiben durften.
Schließlich heißt es Abschied nehmen von der Grosse-Île. Es waren großartige und spannende vier Stunden auf der Insel, die ich auf keinen Fall missen möchte. Ich muss sogar sagen, dass sie mich irgendwie mehr beeindruckt hat als Ellis Island, weil die Grosse-Île für mich authentischer ist. Hier fühlt man sich wirklich fast in die Zeit der großen Einwanderungswellen zurückversetzt. Es war Geschichte zum Anfassen, die mich gefesselt hat.
Auf der Rückfahrt gibt es kaum Erklärungen, es ist ja auch alles gesagt worden und die meisten Passagiere hängen eher ihren Gedanken nach. Wenn man erlebt hat, unter welchen Bedingungen die Menschen die Auswanderung damals erlebten, dann wird man schon ein wenig nachdenklich und ist dankbar dafür, wie gut man es heute doch hat.
Schließlich trennen sich die Wege aller Ausflugsteilnehmer wieder, jeder steigt in sein Auto und fährt davon. So schlage auch ich den Rückweg nach Quebec City ein. Umso näher ich der Stadt komme, desto heftiger beginnt es wieder zu regnen. Später werde ich erfahren, dass es hier den ganzen Tag geschüttet hat. Da hatte ich mit dem Wetter flussaufwärts ja noch richtig Glück. So gibt es dann heute auch keine weiteren Besichtigungen mehr und ich mache mich auf den Weg zurück ins Hotel, obwohl es erst 17 Uhr ist. Vorher stoppe ich schnell bei einem McDonalds und hier komme ich in den Genuss des neuen Service am Platz, den ich so auch noch nicht erlebt habe. Man stellt sich den Burger sowie den Rest seines Menüs individuell zusammen und bekommt alles serviert.
Den Abend verbringe ich dann im Hotel, denn das Wetter bessert sich nicht. So kann ich nur darauf hoffen, dass der Regen morgen aufhört und ich mein geplantes Programm anschauen kann. Auch von Quebec selbst habe ich ja, aufgrund des Wetters heute, noch nicht allzu viel gesehen.
Meilen: 81
Wetter: 10–16, bedeckt mit Schauern
Hotel: Best Western Premier Hotel Aristocrate