Tag 2 – Donnerstag, 12. Mai
Treasures of the Past – London nach Eastbourne
„A day without sunshine is like, you know, night.” – Steve Martin
Es ist kaum zu glauben, schon heute Morgen strahlt die Sonne von einem knallblauen Himmel und das nach dem gestrigen Tag. So werfe ich alle Pläne für heute über den Haufen und beschließe, zwei Ziele anzufahren, die ich eigentlich erst einige Tage später auf dem Plan hatte. Wie gut dieser Einfall war, soll sich später noch zeigen. Jetzt aber mache ich mich, nach einem schnellen Frühstückssandwich erst einmal auf den Weg, einmal halb herum um London auf der M25. Das funktioniert heute erstaunlich gut, obwohl die M25 ja berüchtigt für ihre Staus ist, geht das problemlos. Ich habe die Schnapsidee, das Programm umzuwerfen und heute nach Ickworth zu fahren. Das Bild des Herrenhauses ist sogar auf dem Overseas Visitor Pass des National Trust zu sehen und genau so, nämlich im Sonnenschein, will ich es auch fotografieren.
Kurz nach 10 Uhr erreiche ich den Parkplatz. Eintritt zahlen muss ich nicht, denn das ist durch den Overseas Visitor Pass gedeckt. So kurz nach der Öffnung ist der Parkplatz noch recht leer und ich mache mich zügig auf den Weg, denn ich will bei diesem tollen Wetter erst einmal die Außenaufnahmen machen. Schon nach wenigen Minuten erblicke ich das Haus. Wow, das ist schon imposant und völlig im Gegenlicht. Ist aber nicht so schlimm, denn das hier ist nicht die Schokoladenseite.
Da es bis zur Öffnung des Hauses noch über eine Stunde dauert, beginne ich mit einem Spaziergang über das weitläufige Gelände. Dazu gehört nicht nur ein italienischer Garten, sondern auch weite Wiesen und ein Gemüsegarten. Zuerst komme ich an einem kleinen Teich vorbei. Hier stand früher einmal ein ganzes Dorf, in dem die Angestellten des Herrenhauses wohnten. Davon ist aber nichts mehr erhalten.
Ich erreiche die St. Mary’s Church, die zum Anwesen gehört, allerdings nicht dem National Trust. Sie wird extra verwaltet und benötigt Spenden. Die Kirche ist nicht nur das religiöse Zentrum des Anwesens gewesen, sondern auch die letzte Ruhestätte der Familie Hervey sowie vieler Angestellter von Ickworth.
Nur wenige Schritte weiter erreiche ich schließlich den Walled Garden, meinen Umkehrpunkt für heute. Hier wurde, und wird auch heute noch, Obst und Gemüse angebaut. Früher um das Anwesen zu versorgen, heute um es auf dem Farmers Market zu verkaufen.
Die hintere Mauer grenzt an einen kleinen Wasserlauf, an dem ein Sommerhaus für die Herren des Hauses erbaut wurde.
Zurück im Garten mache ich mich nun endlich auf den Weg, um das Foto zu machen, wegen dessen ich hier bin.
Und das gelingt mir vorzüglich. Meins sieht sogar besser aus als das auf dem Overseas Pass des National Trust, wenn ich das mal so sagen darf.
Mit dem Haus im Rücken gehe ich die Stufen hoch zu dem Ort, wo der Garten in die Wiesen übergeht. Ein schöner Rundweg führt hier entlang, von dem ich einen ebenso schönen Blick habe.
Ich schlendere weiter durch den Garten, der zuweilen fast tropisch anmutet.
Ein Seitenflügel des Hauses beherbergt heute ein Hotel, doch bis vor wenigen Jahren lebte hier noch Nachfahre der Familie Hervey. Und das ist dann auch der Teil der Geschichte, der mir so ein bisschen sauer aufgestoßen ist. Manchmal kann ich mit den Entscheidungen des National Trust nicht so ganz mitgehen. Ein Mitarbeiter bestätigte mir sogar, dass das einer der Gründe für eine Art Neuanfang mit neuem Vorstand in den letzten Jahren war. Aber zurück zur Geschichte.
Das Haus, der Park und eine große Stiftung wurden 1956 dem National Trust zum Ausgleich von Erbschaftsteuerschulden übertragen. Als Teil des Überlassungsvertrages ließ sich der Marquess of Bristol ein 99-jähriges Nutzungsrecht für den Ostflügel mit 60 Zimmern eintragen. Aber 1998 verkaufte John Hervey, 7. Marquess of Bristol, das schwarze Schaf der Familie, das restliche Wohnrecht an den National Trust. Nach seinem kinderlosen Tod folgte sein Halbbruder Frederick, der gerne wieder auf Ickworth gewohnt hätte. Der National Trust aber weigerte sich, das verbleibende Wohnrecht an ihn zurück zu verkaufen, trotz einer im Letter of Wishes festgelegten Verfügung, dass das jeweilige Familienoberhaupt stets die freie Wahl einer Wohnung in Ickworth House haben solle.
Nun ja, das Hotel ist da und das Anwesen für die Familie verloren. Nur die Kirche gehört heute noch der Familie Hervey. Ich finde es nicht ok, denn für mich macht genau das den Reiz vieler Anwesen hier in England aus, dass sie noch bewohnt sind. Sei es jetzt in Privatbesitz oder als Pächter des National Trust spielt da weniger eine Rolle. Zumindest ist durch den Trust ja einiges erhalten geblieben, was sonst durch den Niedergang vieler Privatvermögen nach dem Ersten Weltkrieg verloren gegangen wäre. Aber zuweilen sind die Entscheidungen des Trust nicht so ganz nachvollziehbar, ja sogar manchmal fragwürdig, wie ich bereits im letzten Jahr erfahren habe.
Aber weiter zu meinem Spaziergang durch den Garten. Immer wieder geben Sichtachsen schöne Blicke auf das Haus frei, es blüht an vielen Stellen und sogar niedliche Kaninchen kreuzen meinen Weg.
Schließlich bin ich zurück am Hauseingang, wo gleich meine Tour losgeht. Frei kann man sich im Haus erst ab Mittag bewegen und so habe ich entschieden, an der kurzen Einführungstour teilzunehmen und danach auf eigene Faust weiterzumachen. Meine Tour beginnt vor dem Haus und führt dann von der Eingangshalle direkt ins Obergeschoss.
Hier hat man einen Blick in die Kuppel, die sogar bestiegen werden konnte.
Die ganze Rotunde war übrigens nie als Wohnhaus gedacht, sondern dazu, Gäste des Anwesens zu beeindrucken. Ansonsten wurde dieser Gebäudeteil nicht genutzt. So ist heute in einem der Zimmer das Silber der Familie ausgestellt, in anderen sind Gästezimmer untergebracht.
Als Nächstes landen wir im Untergeschoss. Das Erdgeschoss lassen wir aus. Wir besichtigen die Küche und die Zimmer der Bediensteten.
Damit ist die geführte Tour durch das Haus beendet und die Türen werden zur Erkundung auf eigene Faust geöffnet. Ich nehme mir nur die Prachträume im Erdgeschoss vor, denn die habe ich ja noch nicht gesehen.
Zum Schluss gehe ich noch einen der Gänge zu den Nebentrakten entlang. Das ist schon interessant, was hier gebaut wurde. In diesem Teil des Gebäudes sollten übrigens nur Kunstwerke ausgestellt werden. Gewohnt hat hier auch niemand.
Über drei Stunden bin ich in Ickworth gewesen, bevor ich mich wieder auf den Weg mache. Wo ich nun schon mal hier in dieser Ecke bin, will ich noch ein weiteres Anwesen besuchen, das Wimpole Estate.
Diesen Blick hatten die Herrschaften übrigens, wenn sie aus der Haustür schauten. Nicht schlecht, zumal auch heute noch so gut wie keine moderne Zivilisation zu sehen ist. Nur ein paar Autos rauschen ganz in der Ferne vorbei. Rund zwölf Quadratkilometer Land gehören noch zum Anwesen und die Sichtachse vor dem Haus erstreckt sich über zweieinhalb Meilen.
Mit dem Bau von Wimpole Hall wurde bereits 1640 begonnen und er wurde 1650 abgeschlossen. Seitdem ging das Haus durch viele Hände. Es wurde verkauft, vererbt und verschenkt, bis es schließlich 1938 seine letzten Besitzer, Capt. George Bembridge und seine Frau Elsie, erwarben. Sie restaurierten das Haus aufwendig und lebten für den Rest ihres Lebens auf dem Anwesen. Im Jahr 1976, nach dem Tod von Elsie, ging das Anwesen in den Besitz des National Trust über.
Ich schlendere durch das Haus und schaue mich überall um. Auch hier darf ich wieder nach Herzenslust fotografieren. Das ist so eine Neuerung, die den modernen National Trust symbolisieren soll und das finde ich doch wirklich eine gute Idee.
Nachdem ich das Erdgeschoss ausgiebig angeschaut habe, geht die Tour im Obergeschoss weiter.
Aus den Schlafzimmern hier habe ich einen schönen Blick in den Garten auf der Nordseite des Hauses.
Auf dem Weg aus dem Haus komme ich noch durch die Kapelle, die damals so ziemlich jedes Herrenhaus besaß.
Und dann geht es auch hier noch durch das Untergeschoss des Hauses. Hier liegen nicht nur die Arbeits- und Wohnräume der Angestellten, sondern auch ein Swimming Pool für die Herrschaften des Hauses. Ein wirklich ungewöhnliches Accessoire für ein altenglisches Herrenhaus.
Auch als ich wieder nach draußen komme, scheint die Sonne vom knallblauen Himmel.
So gehe ich noch in den Garten. Herzstück des Ganzen ist übrigens der 1768 erbaute Gothic Tower, zu dem man auch wandern kann. Das hätte ich gern noch gemacht, doch es ist schon recht spät, sodass ich das auf ein anderes Mal verschieben muss.
Auf dem Weg zurück zum Parkplatz komme ich schließlich noch an der St. Andrews Church sowie den Stallungen vorbei, in denen heute das Besucherzentrum untergebracht ist.
Der Abstecher heute hat sich absolut gelohnt. Ich bin hochzufrieden, auch wenn ich heute Abend noch ein Stück weiter fahren muss, denn für morgen habe ich Pläne an der Südküste. Kurz bevor ich Eastbourne am Kanal erreiche, passiert jedoch noch etwas Unschönes. Irgendetwas liegt auf der Straße und ich kann nicht mehr ausweichen, so trifft dieses Etwas mich am linken Vorderreifen. Ich fahre weiter, denn im Verkehr kann ich nicht anhalten, doch nach meiner Ankunft entdecke ich den Schaden. Nicht nur die Felge hat eine Delle, auch der Reifen selbst ist beschädigt. Das verhagelt mir erst einmal den ganzen Abend, denn ich weiß nicht, ob ich so weiterfahren kann. Ich rufe dann erst einmal bei Enterprise an, wo man mir sagt, ich solle am nächsten Morgen zu einem Tyre Shop fahren und den Schaden begutachten lassen. So bin ich nun in einem meiner bevorzugten Premier Inns am Meer, aber die Lust heute Abend noch etwas zu unternehmen ist mir gründlich vergangen.
Meilen: 287
Wetter: 16–26 Grad – sonnig
Hotel: Premier Inn Eastbourne City Center; £39