Tag 10 – Sonntag, 03. Juni 2018
I wish I could fly – Bracknell nach London
„When a man is tired of London, he is tired of life; for there is in London all that life can afford.” – Samuel Johnson
Nun bin ich also zurück in London, dort wo meine Reise begonnen hat. Dass ich aber heute schon hier bin, hat einen besonderen Grund. Ich will endlich einen Ort besuchen, den ich vor rund zwei Jahren entdeckt habe, der aber nur jeweils am ersten Sonntag im Monat geöffnet hat. Wie gut, dass heute der erste Sonntag im Monat Juni ist.
So führt mich der Weg nach Croydon, dorthin, wo ich zu Silvester 2016/17 im Hilton Hotel übernachtet habe. Genau gegenüber befindet sich nämlich der allererste Flughafen von London. Und dieses Flugfeld, wie man es besser nennen sollte, hat einst Geschichte geschrieben.
Um aber hier einen Blick hinter die Kulissen werfen zu können, muss ich an einer Führung teilnehmen. Das Haus kann man zwar von außen jederzeit ansehen, aber das war es dann auch schon. Der Haken an der Sache, die Führungen finden nur am ersten Sonntag im Monat statt, denn das Croydon Airport Visitor Center wird von Ehrenamtlern betrieben. So stand der Wunsch hierherzukommen, schon lange auf meiner Liste und auf dieser Reise hat es endlich geklappt.
Vor dem Gebäude treffe ich Jack. Er liebt Fliegen und alles, was mit Flugzeugen und Flughäfen zu tun hat. So ist es kein Wunder, dass es ihn hierhergezogen hat, um Besuchern die Geschichte dieses ganz besonderen Ortes näherzubringen.
Der Rundgang beginnt vor dem Gebäude, genau unter der De Havilland DH.114 Heron, die vor dem Gebäude aufgestellt ist. In den 1950er Jahren wurden diese Flugzeuge im Regional- und Zubringerdienst eingesetzt.
Jack führt uns um das Gebäude herum. Airport House, wie der Terminal heute heißt, ist der erste Flughafenterminal weltweit, der genau für diesen Zweck gebaut wurde, nämlich Flugpassagiere abzufertigen. Und Croydon war der erste internationale Flughafen von Großbritannien. Von 1920 bis 1959 wurde hier Flugbetrieb durchgeführt. Aber die Geschichte des Croydon Aerodome, wie der Flughafen zuerst genannt wurde, begann sogar noch früher. Bereits 1915 wurde hier eine Basis eingerichtet, die dafür sorgen sollte, deutsche Zeppeline abzufangen. Das Problem, sowohl Flugkenntnisse als auch Luftüberwachung steckten noch in den Kinderschuhen und es konnte bis zu einer Stunde dauern, bis man einen Zeppelin entdeckte. Und selbst dann, konnte kaum etwas ausgerichtet werden, denn man versuchte lediglich mit Haken und Pistolen den Zeppelin vom Himmel zu holen. Erst mit der Erfindung von Brandmunition hatte man mehr Erfolg.
Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich der Flugverkehr rasant und auch immer mehr Privatleute wollten nun fliegen. Am 29. März 1920 wurde deshalb der Croydon Airport in Betrieb genommen. Er war der erste Flughafen im Vereinigten Königreich und wer auf die Insel oder von ihr fliegen wollte, der musste nach Croydon. Die erste Fluggesellschaft war Imperial Airways (später BOAC-British Overseas Airways bzw. British Airways).
Auf der Rückseite des Hauses ist dann das absolute Highlight des Gebäudes zu sehen, der Tower von 1928 und der erste seiner Art weltweit. Zuvor wurden die Flüge aus kleinen Hütten auf dem Flugfeld abgefertigt, was aber nicht effizient genug war. Und noch etwas wurde hier zum ersten Mal im Flugverkehr eingesetzt, zum ersten Mal wurde Funkverkehr mit Sprache genutzt, der nach und nach die Morse Übertragung ablöste. Schon 1923 wurde genau hier auch der internationale Notruf erfunden. Funker Fred Mockford wurde gebeten, sich einen Notfallcode einfallen zu lassen und er schlug „Mayday, Mayday, Mayday” vor. Hauptgrund dafür, fast alle Flügen gingen von Croydon nach Paris und Mayday klang so ähnlich wie „M’aidez”, was französisch helfen sie mir bedeutet.
Schließlich sind wir zurück vor dem Haupteingang. Hier kamen die Passagiere an und hier betraten sie zum ersten Mal den Flughafen. So ein Flug von Croydon, das war der absolute Ausdruck von Luxus in den 1920er und 1930er Jahren. Vergleichbares gab es nicht. Wer es sich leisten konnte, der trat eine Flugreise an. Und die startete bereits mit einem Limousinen-Transfer aus der Londoner Innenstadt. Danach gab es ein drei Gänge Menü, bevor der Flug überhaupt startete.
Jack führt uns nun in das ehemalige Terminalgebäude, das heute als Bürogebäude genutzt wird. Deshalb gibt es auch einen Empfangstresen in der Mitte des Raumes. Der war natürlich früher nicht da. Ansonsten ist das Gebäude aber in einem bemerkenswerten Zustand. Es ist wirklich ein Glück, dass es erhalten wurde.
Dieses Haus und dieses Halle, so erzählt uns Jack, waren in den zwanziger Jahren das Zentrum des Universums. Jeder, der etwas war, wollte hier sein. Während in den USA der zivile Flugverkehr erst nach dem Zweiten Weltkrieg richtig durchstartete, konnte man von Croydon bereits nach Paris, Amsterdam, Rotterdam und ab 1923 auch nach Berlin fliegen (Anmerkung: in dem Jahr wurde der Flughafen Tempelhof eröffnet).
Besonders die Hollywoodstars der damaligen Zeit wollten hier gesehen werden. So gibt es Aufnahmen von Charlie Chaplin, Mary Pickford, Douglas Fairbanks jr., Gracie Fields, Rita Hayworth und auch John F. Kennedy. Sie alle starteten und landeten in Croydon. Doch sie waren nicht die einzigen.
Flugpionier Charles Lindbergh flog nach seiner New York-Paris Atlantiküberquerung hierher und wurde in Croydon gefeiert. Alan Cobham flog 1925/26 von hier nach Kapstadt und zurück. Bert Hinkler startete 1928 von Croydon zum ersten Mal nach Darwin und nur ein Jahr später schaffte Charles Kingford Smith die Strecke noch schneller (Anmerkung: Der Flughafen Sydney ist noch heute nach dem australischen Flugpionier benannt.). Auch eine Frau war unter den Flugpionieren, die von Croydon in alle Welt flogen, doch diese Geschichte erzählt Jack erst später.
Zuerst einmal schauen wir uns weiter im Terminal um. An einer Wand gibt es ein großes Bild mit den Flugzeugen der damaligen Zeit. Darüber befindet sich eine Nachbildung der ersten Abflugtafel. Die bestand nur aus verschiedenen Uhren, die die Abflugzeiten anzeigten. Mit zunehmendem Flugverkehr wurde das aber schnell zu verwirrend und so schon zwei Jahre nach der Eröffnung wieder abgeschafft.
Ein Modell zeigt das Terminalgebäude, das dahinter befindliche Flugfeld, das erste Flughafenhotel der Welt auf der rechten Seite und die Flugzeugwerft auf der linken. Denn in Croydon starteten die Flugzeuge nicht nur, sie wurden auch gleich hier vor Ort gebaut.
Durch eine Tür im hinteren Teil des Terminals folgen wir Jack tiefer in das Gebäude hinein. Ab hier darf man nur noch mit einem Guide unterwegs sein, während die Lobby zu den Öffnungszeiten auch auf eigene Faust angesehen werden kann.
Im angrenzenden Flur sind historische Fotografien zu sehen, die den Flughafen Croydon in Betrieb zeigen. Gleich das erste Bild zeigt die Frau, die hier Geschichte geschrieben hat – Amy Johnson. Die britische Flugpionierin war die erste Frau, die im Jahr 1930 allein von London nach Australien flog. Auf dem Bild zu sehen sind die Pilotin und ihr Flugzeug. Johnson war übrigens zuvor nie so weit geflogen. Ihre weiteste Strecke waren 237 Kilometer bis nach Kingston upon Hull. Und überhaupt trauten die meisten Leute einer Frau das Fliegen sowieso nicht zu. Doch die taffe Pilotin schaffte es nicht nur nach Australien, sondern führte später auch noch viele weitere erfolgreiche Flüge durch.
Die nächsten Bilder zeigen dann Flugzeuge, die in den 20er und 30er Jahren regelmäßig in Croydon zu sehen war. Darunter die holländische KLM und die deutsche Lufthansa, die noch bis in die 30er Jahre regelmäßig von Berlin nach London flog.
Am Ende des Korridors befindet sich ein Treppenhaus, das in den Tower hinaufführt. Während der Rest des Gebäudes heute vermietet ist, gehört der Tower dem Verein und ist ein kleines Museum. Damit die Besucher aber nicht in den vermieteten Bereichen herumlaufen, darf man hier nur mit einem der Ehrenamtler hinauf.
Das Flugzeug an der Decke ist eine Handley Page H.P. 42, ein viermotoriges Langstreckenflugzeug, das ab 1931 im Dienst war. Es wurden insgesamt acht Exemplare gebaut, von denen jedoch heute keines mehr erhalten ist. Achtzehn bis vierundzwanzig Passagiere konnten in zwei Kabinen, vor und hinter den Tragflächen, transportiert werden. Das Flugzeug selbst war komplett aus Metall, nur die Tragflächen waren mit Sperrholz bespannt.
Schließlich führt Jack uns in den Hauptraum des Towers. Hier wurde der gesamte Flugverkehr überwacht, wie das auch heute noch in einem Tower der Fall ist. Für die damalige Zeit gab eine bemerkenswerte technische Ausstattung, die hier gezeigt wird.
Alte Fotografien verdeutlichen noch mehr die Arbeit, die hier auf dem Tower geleistet wurde. So wurde nicht nur der Funkverkehr überwacht, auch Strecken wurden mithilfe von überdimensionalen Landkarten berechnet.
Ebenso spannend sind die vielen ausgestellten Dokumente. So gibt es Flugrouten, Flugpläne und man kann auch sehen, was so ein Flug damals gekostet hat. Der Sonderflug nach Bagdad zum Beispiel kostete 1927 ganze 91 Pfund. Würde man das in die heutige Zeit umrechnen, wären das über 5.750 Pfund. Und das war nicht etwa in der First Class, sondern in einer kleinen, engen Maschine wie der auf dem Foto.
Schön anzusehen sind auch die Abflug- und Ankunftszeiten von Imperial Airways. So ein Flug nach Australien machte schon mal um die zehn Zwischenstopps, inklusive Übernachtungen unterwegs, denn Nachtflüge waren meist zu gefährlich. Schließlich flog man einzig auf Sicht.
In einer Vitrine wird dann nochmal Amy Johnson gedacht, jener Britin, die es als erste Frau allein nach Australien schaffte und später auch nach Kapstadt und New York. Trotzdem nahm ihr Leben ein tragisches Ende. Im Zweiten Weltkrieg durfte sie als Frau beim Militär nicht im Cockpit sitzen, so meldete sie sich als Pilotin für Transportflüge. Auf solch einem Flug stürzte sie vor der Themsemündung in die Nordsee. Ihre Leiche wurde nie gefunden. Aussagen einer Schiffsbesatzung bestätigen jedoch, dass ein Pilot mit dem Fallschirm absprang und das Wrack ihrer Maschine wurde später geborgen.
Mysteriös ist aber nicht nur das Verschwinden von Amy Johnson. Bis heute ranken sich Gerüchte darum, dass sie eine geheime Fracht transportierte oder gar einen Passagier. Bewiesen ist nichts davon und der Absturz nie endgültig aufgeklärt worden. Dieses Schicksal teilt sie mit der berühmten Fliegerin Amelia Earhart, die gar spurlos verschwand. Die beiden Frauen trafen sich nur wenige Jahre zuvor noch in den USA.
Noch seltsamer ist aber ein Zwischenfall, der sich am 4. Juli 1928 zutrug. Der steinreiche Geschäftsmann Alfred Loewenstein bestieg mit einigen seiner Mitarbeiter ein Privatflugzeug, um nach Belgien zu fliegen, wo er mit seiner Familie lebte. Doch dort kam er nie an. Mitten über dem Kanal ging er in die Toilette, wo sich auch der Ausgang des Flugzeuges befand und verschwand. Er war einfach weg. Die anderen Passagiere behaupteten, er hätte sich wohl in der Tür geirrt, denn am 19. Juli fand man an einem Strand seine Leiche. Es wurde festgestellt, dass er beim Aufprall auf das Wasser noch lebte. Wahrscheinlicher ist allerdings, dass seine Angestellten in ein Mordkomplott verwickelt waren, angestiftet von seiner Frau. Was genau passiert ist, ist bis heute nicht abschließend geklärt. Die gesamte Geschichte wird hier noch einmal aufgearbeitet.
Hier oben im Tower gibt es dann noch diese Großaufnahme des Flughafens. Man sieht sehr deutlich, dass nur ein kleiner Teil vor dem Terminal gepflastert war. Start- und Landebahnen waren einfache Pisten auf Gras.
Das war dann auch einer der Hauptgründe, warum der Flughafen geschlossen wurde. Die Flugzeuge wurden immer größer und schwerer und konnten auf dem unbefestigten Boden nicht mehr landen. Sie sanken bei feuchtem Wetter schlicht ein. Ein Ausbau wiederum war auch nicht möglich, denn London wuchs immer mehr und die Gebiete um den Flughafen waren inzwischen besiedelt. So wurden anstatt die Flughäfen London-Heathrow und London-Gatwick eröffnet. Der letzte Linienflug in Croydon hob am 30. September 1959 ab. Eine Ära war zu Ende.
Aber zurück zur Ausstellung, hier zeigt uns Jack, wie das mit dem Boarding früher so war. Einfach einen Platz reservieren und Einsteigen ging da nämlich nicht, denn das Gewicht musste noch mehr ausbalanciert werden, als das heute der Fall ist. Deshalb wurden alle Passagiere samt Gepäck vor dem Flug gewogen. Interessant ist auch, dass die Nummerierung der Sitze von hinten nach vorn verlief. Ein Gesamtgewicht durfte ebenfalls nicht überschritten werden, sodass es durchaus vorkam, dass jemand auf dem gebuchten Flug nicht mitreisen konnte.
Interessant ist auch der Ratgeber für Flugreisende. So gibt dieses Heftchen explizite Hinweise für weibliche Passagiere und beantwortet Fragen zu Kleidung, Gepäck und Make-up.
Richtig spannend wird es dann noch einmal bei der Ausstellung der verschiedenen Flugzeugsitze. Während der blaue Sessel ja schon recht modern aussieht, versetzen uns die Fotos daneben schon in Erstaunen. So sah ein Flugzeug damals von innen aus?
Auch dieser Doppelsitz ist schon recht modern und immerhin im Boden verankert, auch wenn man mit dem Mitpassagier doch ganz schön auf Tuchfühlung geht.
Ganz abenteuerlich wird es dann bei diesem Stuhl. Ja, solche Korbstühle waren die ersten Passagiersitze in Flugzeugen. Fast unglaublich. Nicht nur, dass sie nicht sehr bequem waren, wenn man darauf mehrere Stunden verbringen musste, ohne sich großartig bewegen zu können, sie waren nicht einmal mit dem Flugzeugrumpf verbunden. Bei Turbulenzen oder einer harten Landung konnte es für die Passagiere also ziemlich unbequem werden.
Die Vitrine nebenan zeigt Geschirr, auf dem die Passagiere ihr Menü serviert bekamen, vor dem Flug, gleich hier im Terminal. An Bord war für solchen Luxus nämlich noch kein Platz. Bordservice ist erst eine Erfindung späterer Jahre.
Irgendwann muss ich mich dann aber doch von Jack verabschieden. Ich bin schon länger geblieben, um noch ein paar Fragen zu stellen. Doch die nächste Gruppe wartet bereits auf der Treppe und da müssen wir einfach Platz machen. Als ich gehen will, rät mir Jack aber noch die großen Schautafeln in der Lobby anzusehen. Darauf werden die Geschichten des Airports noch einmal lebendig. Einerseits die, die uns Jack schon erzählt hat, aber auch die, für die einfach keine Zeit mehr blieb.
Eine Geschichte, die mir noch ganz genau im Gedächtnis geblieben ist, ist der große Raub. Auch so etwas gab es am Croydon Airport. Und das war nicht irgendein Raub, es war einer der größten des 20. Jahrhunderts. Am 6. Mai 1935 betraten fünf Männer den Flughafen. Damals gab es nur einen einzigen Sicherheitsmann, der gerade im Terminal unterwegs war. Die Männer öffneten den Safe des Flughafens mit Gewalt und stahlen Goldbarren im Wert von 21.000 Pfund (heute mehr als 1,5 Millionen Pfund). Das Gold wurde niemals wiedergefunden und nur ein einziger Verdächtiger verhaftet.
Was ich auch noch spannend fand, der Flughafen war damals eine Touristenattraktion. Noch viel mehr als es Flughäfen heute sind. Allein im Jahr 1936 kamen 107.059 Besucher, um auf der Aussichtsterrasse den Flugzeugen beim Starten und Landen zuzusehen.
Jack erzählte uns auf dem Rundgang auch vom ersten Airport Hotel, das hier in Croydon entstand. Und auch das Hotel gibt es noch immer. Es sogar heute noch ein Hotel und man kann hier übernachten. Einfach erstaunlich.
Den letzten Hinweis auf ein Flughafengebäude bekam ich von Jack kurz bevor die Tour zu Ende war. Wenn ich den Parkplatz verlasse, solle ich auf ein kleines Gebäude auf der rechten Seite achten. Davor hat heute TGIs Fridays seine Werbung aufgestellt, doch das Gebäude dahinter war damals Teil des Flughafens. Die Ehrenamtler vom Croydon Visitor Center hoffen eines Tages das Geld zusammenzubekommen, um es auch noch zu renovieren. Ich habe sie gern mit einer kleinen Spende unterstützt, denn das ist wirklich ein tolles Projekt, das die Damen und Herren hier am Leben erhalten.
Es ist schon früher Nachmittag, als ich Croydon wieder verlasse. Doch der Tag ist einfach zu schön, um ihn jetzt schon zu beenden. Und so schaue ich in die HHA-App, welche Häuser denn heute noch in der Nähe geöffnet sind. Dabei stoße ich auf Firle Place, das nur eine gute halbe Stunde südlich liegt.
Als ich in die Auffahrt einbiege, ist vom Haus noch nichts zu sehen. Erst einmal folge ich der Zufahrt über weite Wiesen, auf denen Schafe grasen.
Der Parkplatz befindet sich dann gleich vor dem Tor zum Garten des Anwesens. Hier stelle ich mein Auto ab und betrete die schön bepflanzte Terrasse.
Der erste Blick auf das Haus lässt mich dann etwas zusammenzucken. Das ist ja eingerüstet. Klar, sowas muss auch mal sein, aber für Fotos ist es halt nicht so schön. Zum Glück scheint nur eine Seite betroffen zu sein.
Bevor ich zum Haus gehe, schaue ich mich ein wenig im Garten um. Über eine kleine Treppe laufe ich über den Rasen bis zum HaHa, von wo aus ich Pferde auf der Weide beobachten kann.
Firle Place ist der Stammsitz der Viscounts of Gage. Derzeit lebt Nicolas Gage, 8. Viscount Gage mit seiner Familie im Haus. Schon seit dem 15. Jahrhundert gehört der Familie Gage dieses Land, als sie es von der Familie Levett erworben hat. Das erste Haus wurde für Sir John Gage erbaut, der hohe Positionen am Hof innehatte und unter anderem der Testamentsvollstrecker von Heinrich VIII. war. Als Sir William Gage, 7. Baronet 1713 das Anwesen erbte, ließ er das Haus umbauen und in französischem Sandstein verkleiden, sodass es einem Château ähneln sollte. Dieses Aussehen hat das Herrenhaus noch heute.
Durch den formellen Garten gehe ich nun in Richtung Haus. Mit meiner HHA-Mitgliedschaft habe ich hier mal wieder kostenfreien Eintritt.
Die Inneneinrichtung des Hauses wurde über viele Jahrhunderte zusammengetragen. Dazu gehören auch wertvolles Porzellan und Gemälde von Künstlern wie van Dyck, Reynolds, Raphael oder Gainesborough. Ebenfalls interessant sind die naturwissenschaftlichen Sammlungen aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Leider ist Fotografieren verboten, da die Familie die Räume noch immer bewohnt.
Da es noch nicht so spät ist und sich ein weiteres Herrenhaus gleich um die Ecke befindet, beschließe ich, noch nach Glynde Place zu fahren. Schaun wir mal, ob man mich noch hereinlässt, da die Häuser meist eher schließen als die Gärten. Aber versuchen kann ich es ja.
Der Zugang zum Anwesen erfolgt über das Kutschenhaus, doch bevor ich hier hindurchgehe, muss ich erst einmal den Parkplatz finden. Der ist irgendwie blöd ausgeschildert und befindet sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite hinter einer Mauer. Nachdem ich mein Auto hier abgestellt habe, laufe ich zurück und zum Tor.
Vom Kutschenhaus komme ich in einen Innenhof mit mehreren Nebengebäuden und im Hintergrund ist ein kleiner Teil des Herrenhauses zu sehen. Ich gehe zur Kasse und lege meine HHA-Karte vor. Dann erfahre ich, dass es heute noch eine letzte Führung gibt, ich aber noch rund fünfzehn Minuten warten müsse. So setze ich mich im Hof auf eine Bank und genieße ein wenig die Sonne.
Da aber auch nach zwanzig Minuten kein weiterer Besucher mehr erscheint, bekomme ich nun mal wieder eine Privatführung. Glynde Place wurde 1569 für William und Anne Morley erbaut und ist noch heute in derselben Familie, die allerdings durch Hochzeiten und Erbschaften inzwischen einen anderen Namen trägt. Derzeitiger Hausherr ist Francis Anthony Brand, 7. Viscount Hampden, der hier mit seiner Frau Caroline und ihren drei Kindern wohnt.
Auf der Führung durch das Haus darf ich so auch hier nicht fotografieren, was ich einmal mehr bedauere, aber es ist nicht zu ändern. Ich kann ja auch verstehen, dass die Familien ihre Wohn- und Schlafzimmer nicht überall im Internet sehen wollen.
Während ich das Haus durch einen Seiteneingang betreten habe, entlässt mich mein Guide nur durch die Vordertür. Von hier habe ich einen tollen Blick über die Terrasse und das Anwesen, das sich dahinter erstreckt.
Bevor ich gehe, kann ich so noch einen schönen Blick auf die Vorderfront des Hauses werfen. Glynde Place wurde übrigens zwischen 2008 und 2013 ausführlich renoviert. Um das zu finanzieren, verkaufte Viscount Hampden ein wertvolles Gemälde aus der Familiensammlung. Das ist kein Einzelfall und kommt in den Adelsfamilien öfter vor als man denkt, denn nicht alle sind mit einem üppigen finanziellen Polster ausgestattet, wollen ihren Familiensitz aber nicht verlieren oder an den National Trust übergeben müssen.
Zurück zum Auto führt mich der Weg nun durch die Haupteinfahrt zum Innenhof. Mein Weg durch das Kutschenhaus war sozusagen die Hintertür. Die zwei Fabelwesen auf den Sockeln sind das Wappen von Gynde Place.
Während meiner Führung durch Glynde Place hat mir der Guide noch geraten, die St. Marys Church zu besuchen, die sich gleich neben dem Anwesen befindet. So laufe ich die wenigen Meter an der Straße entlang zum Eingang.
Die kleine Kirche wurde um 1760 von Richard Trevor, dem Bischof von Durham erbaut. Sein Elternhaus war Glynde Place und das Gebäude ersetzte eine Kirche aus dem Mittelalter an selber Stelle. Der Architekt war derselbe, der für Richard Trevor den Bishops Place in Durham entwarf, den ich vor ein paar Jahren besucht habe.
Fast die komplette Inneneinrichtung der Kirche ist noch immer original erhalten, obwohl 1841 einige Umbauten stattfanden und eine zusätzliche Galerie errichtet wurde, damit mehr Menschen Platz fanden.
In der Kirche sind auch viele Familienmitglieder von Glynde Place beigesetzt. Tafeln erinnern an die Verstorbenen.
Den dazugehörigen Friedhof kann ich jedoch nicht näher anschauen. Hier müsste erst einmal jemand Rasen mähen.
Da das Wetter so toll ist und ich irgendwie noch keine Lust habe ins Hotel zu fahren, entscheide ich mich dazu, noch in Richtung Eastbourne zu fahren. Eigentlich total unvernünftig das Ganze, denn ich muss in die entgegengesetzte Richtung, aber wer will schon was einwenden, wenn man allein unterwegs ist?
So geht es dann über kleine Nebenstraßen nach Süden. Es macht einfach immer wieder Spaß, diese Strecken zu fahren. In Deutschland wäre es kaum denkbar, solche Straßen als Hauptverkehrswege zu haben, aber hier in England funktioniert das.
Rund eine halbe Stunde dauert die Fahrt, dann bin ich auch schon da am Beachy Head, jener Kreideklippe in der Nähe von Eastbourne, die stolz in den Ärmelkanal hineinragt. Und heute ist hier richtig was los. Das schöne Wetter nutzen anscheinend viele Menschen, um am Strand zu sitzen und sich zu sonnen.
Nach einer guten halben Stunde verabschiede ich mich dann aber doch und fahre in Richtung Schnellstraße, die später zur Autobahn wird. An einer Raststätte an der M25, dem Ring um London, halte ich und esse bei Harry Ramsden zu Abend. Noch einmal Fish&Chips muss einfach sein heute.
Schließlich erreiche ich das Hilton Graden Inn am London Heathrow Airport und checke ein. Ich bekomme ein Upgrade auf ein Zimmer im obersten Stockwerk mit Blick auf den Flughafen.
Von hier kann ich nicht nur einen interessanten Sonnenuntergang bestaunen, sondern auch das Treiben auf einem Teil des riesigen Flughafens. Sogar die hier geparkte Concorde kann ich entdecken.
Nun gibt es nur ein kleines Problem. Ich muss bis morgen früh den Mietwagen abgegeben haben. Allerdings nicht hier in Heathrow, sondern am London City Airport, dort wo ich ihn angemietet haben. Es war nicht möglich, den Wagen hier abgeben zu können, ohne einen wahnsinnig hohen Aufpreis zu zahlen. Warum auch immer.
Soweit so gut. Normalerweise wäre ich einfach morgen früh gefahren, doch heute ist Sonntag, morgen Montag und das bedeutet natürlich den Start einer neuen Arbeitswoche, mit Rushhour, vielen Menschen in der U‑Bahn und auf der Straße und allem, was sonst noch dazu gehört. So komme ich auf die Idee, noch heute Abend zu fahren. Auf meinem Vertrag steht ja, dass die Abgabe bis 23 Uhr erfolgen kann.
Die Fahrt einmal quer durch London klappt dann auch wunderbar, ebenso das Volltanken kurz vor dem Ziel. Doch dann bin ich etwas ratlos, denn eine Fahrzeugabgabe, wie ich sie kenne, kann ich am Flughafen einfach nicht finden. Ich fahre erst einmal dorthin, wo ich das Auto geholt habe, doch die einzige Person dort ist irgendein Angestellter, der keine Ahnung hat. So parke ich das Auto auf einem Stellplatz von Hertz und gehe zum Terminal.
Im Terminal angekommen, stehe ich vor einem geschlossenen Schalter. Ein Schild weist darauf hin, dass man den Autoschlüssel einfach in den Briefkasten werfen soll und die Abrechnung dann per E‑Mail bekommt. Nun gut, wenn es so sein soll, dann machen wir das halt so.
Anschließend gehe ich zum Bahnhof der Dockland Light Rail und fahre bis zur Tower-Station. Von dort geht es weiter mit der Tube, zuerst nach Earls Court und von dort mit der Picadilly Line weiter bis nach Heathrow. Ich bin erstaunt, wie viel Betrieb hier noch herrscht. Nicht mal in New York waren die Züge an einem Sonntagabend noch so gut gefüllt.
Nach dieser kleinen Rundfahrt erreiche ich dann endlich die Station Hatton Cross. Die letzten Meter zum Hotel sind dann allerdings nicht so toll, denn die Gegend ist recht dunkel. So laufe ich einen kleinen Umweg, weil ich an der belebten Straße bleiben will und erreiche dann wohlbehalten wieder das Hotel.
Meilen: 224
Wetter: sonnig, 20–27 Grad
Hotel: Hilton Garden Inn Heathrow Airport